Grenzenloses Netz? Barrierefreiheit für alle!
Wie sieht die Zukunft der digitalen Barrierefreiheit aus und welche Neuerungen bringt das angepasste BITV-Testverfahren?
19. September 2019
Wie sieht die Zukunft der digitalen Barrierefreiheit aus und welche Neuerungen bringt das angepasste BITV-Testverfahren?
19. September 2019
Zu viele Webangebote verwenden weiterhin keinen barrierefreien Webstandard. Das ist erschreckend, bedenkt man, dass allein in Deutschland rund 7,5 Millionen Menschen schwerbehindert und auf Hilfsmittel bzw. entsprechend angepasste Apps und Internetauftritte angewiesen sind. Weltweit hat fast jeder siebte Mensch eine Form von Behinderung, die ihn bei der Nutzung von Technologien einschränkt. Hinzu kommt, dass Menschen mit Beeinträchtigung das Internet überdurchschnittlich häufig und intensiv nutzen. Außerdem ist Barrierefreiheit auch für Ältere und Nicht-Muttersprachler:innen ein zentrales Thema.
Warum also schenken viele Webseitenbetreiber und Digitalagenturen der Gleichstellung und Accessibility im Netz so wenig Aufmerksamkeit? Mangelndes Budget und fehlendes Know-how mögen Gründe sein. Dabei nutzen barrierefreie Webstandards allen, denn sie fördern die Kommunikation (klares Informationsdesign, verständliche Texte), erhöhen die Benutzerfreundlichkeit (intuitive Bedienung, eindeutige Struktur) und sind besonders suchmaschinenfreundlich (Alternativtexte, Audiodeskriptionen).
Es gibt zwar ein Bewusstsein für das generelle Anliegen der Barrierefrei-Informationstechnik-Verordnung (BITV), über die konkreten Anforderungen und Aufgaben in der Umsetzung ist man sich jedoch oft unklar.
Grundsätzlich gilt, dass Menschen mit Handicap – sensorische, motorische oder kognitive Einschränkungen – nicht daran gehindert werden sollen, öffentlich zugängliche Internetangebote zu nutzen. In der Umsetzung geben die vier Prinzipien Wahrnehmbarkeit, Bedienbarkeit, Verständlichkeit und (technische) Robustheit Orientierung.
Wahrnehmbarkeit beginnt beim Kontrast zwischen Text und Hintergrund, der Farbauswahl von Schaltflächen (Stichwort Farbschwäche) und der Skalierbarkeit von Texten (Stichwort Alterskurzsichtigkeit). Für Hörgeschädigte und Sehbehinderte sind Gebärdensprache und Textalternativen für Video, Audio sowie Grafiken und Bilder bereitzustellen. Insgesamt sollten keine Informationen, Strukturen und Beziehungen von Elementen und Inhalten nur rein grafisch vermittelt werden.
Bedienbarkeit: Navigation und Interaktion darf nicht nur via Maus oder Touch funktionieren, sondern sollte auch mit Ein- und Ausgabegeräten wie Tastaturen, Braille-Zeilen, Joysticks oder per Sprachbefehl möglich sein. Das gilt übrigens auch für barrierefreie Eingabemöglichkeiten im CMS für Redakteur:innen mit Einschränkungen. Zudem müssen Player, Slider usw. manuell steuerbar und alle Inhalts- und Steuerelemente durch korrekte Markups strukturiert und identifizierbar sein.
Verständlichkeit lässt sich für Nutzer, die einen Screenreader benutzen vor allem durch die konsistente Bezeichnung von Navigation und Funktionen erreichen, die wiederholt auf einer Webseite vorkommen. Zusätzliche Navigationsmöglichkeiten wie Suchfunktion, Breadcrumb und eine aussagekräftige Seitenstruktur mit entsprechenden HTML-Elementen für Überschriften, Listen, Auszeichnungen usw. erleichtern den Zugang zu den Inhalten. Zudem wird die Verständlichkeit auch durch die Anwendung von leichter, angemessener Sprache und die Vermeidung von Fachjargon und Fremdwörtern gefördert.
Robustheit wird durch die Einhaltung moderner Webstandards erreicht, die eine optimale Darstellung von Inhalten in verschiedenen gängigen Browsern ohne Plug-ins garantieren und mit assistiven Technologien wie Bildschirmvorleseprogrammen kompatibel sind. Inhalte sollten also unabhängig von Hard- und Software funktionieren.
Insgesamt – das erleben wir bei 3pc häufig in der Beratung – gibt es zwar ein Bewusstsein für das generelle Anliegen der Barrierefrei-Informationstechnik-Verordnung (BITV). Über die konkreten Anforderungen und Aufgaben in der Umsetzung ist man sich jedoch oft unklar.
Webseitenanbieter und Agenturen werden umdenken und sich intensiver mit dem Thema befassen müssen. Barrierefreiheit ist kein Sonderfall und keine Nischenanforderung, die Menschen ohne Handicap nicht tangiert. Uns allen ist geholfen, wenn beispielsweise Texte auch bei direkter Sonneneinstrahlung auf dem Display durch hohe Kontraste erkennbar bleiben. Oder denken wir an die rasant wachsende Bedeutung von Sprachsuchanfragen und Sprachausgabe via Siri, Alexa & Co. – Barrierefreiheit kann also auch bedeuten: Machen wir uns fit für die Zukunft!
Entscheidend ist, dass Barrierefreiheit von Digitalagenturen und Online-Redaktionen von Anfang an mitgedacht, kontinuierlich gepflegt und nicht zuletzt immer wieder getestet werden muss.
Die Prüfung von Webangeboten auf Barrierefreiheit orientiert sich an der Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung (BITV 2.0 vom Mai 2019). Diese basiert auf der EU-Norm EN 301 549 sowie den Web Content Accessibility Guidelines (WCAG) 2.1.
Testverfahren und Bewertungsschema wurden 2019 geändert. Hinzugekommen sind zwölf neue Prüfschritte (jetzt insgesamt 60), so etwa bezüglich Bildschirmausrichtung, Verwendung von Eingabefeldern, Anpassung von Textabständen oder Alternativen für Gestensteuerung.
Das bisherige Punktesystem ist entfallen. Bislang waren Webangebote mit 90+ Punkten als „gut zugänglich“, solche mit 95+ Punkten als „sehr gut zugänglich“ eingestuft. Fortan gilt: Eine Internetseite ist nur dann BITV-konform, wenn sie ALLE Prüfschritte „erfüllt“ bzw. „eher erfüllt“ (wobei Prüfschritte nur bei geringfügigen Mängeln mit „eher erfüllt“ bewertet werden dürfen).
Entsprechend gibt es auch neue Prüfzeichen. Hat ein abschließender BITV-Test eines Webangebots ergeben, dass noch einzelne Mängel bestehen, kann das Prüfzeichen „BIK BITV-Test Prüfbericht“ verwendet werden. Dieses ist noch kein Nachweis für Barrierefreiheit und führt die Mängel im verlinkten Prüfbericht auf. Erst nach vollständig bestandenem Test dürfen Webseitenbetreiber oder App-Anbieter das Prüfzeichen „BIK BITV-konform (geprüfte Seiten)“ führen.
Doch was bedeutet das alles für Anbieter von Internetauftritten und die Digitalisierungsbranche?
Zunächst ist festzuhalten, dass die Änderungen von WCAG und BITV eine Anpassung an neue technische Standards und an das gewachsene Know-how zu den Nutzungsbedürfnissen eingeschränkter Menschen darstellen. Das ist grundsätzlich zu begrüßen. Viele befürchten allerdings, dass der zusätzliche Arbeitsaufwand zur Erstellung barrierefreier Internetangebote ins Unermessliche wächst und in keinem Verhältnis mehr zum Nutzen steht.
Entscheidend ist, dass Barrierefreiheit von Digitalagenturen und Online-Redaktionen von Anfang an mitgedacht, kontinuierlich gepflegt und nicht zuletzt immer wieder getestet werden muss. Im Detail geht es dann etwa um Leichte Sprache, sinnvolle Verschlagwortung, die Befüllung von Alt-Tags für Bilder und Grafiken, erweiterte Untertitel (Captions) und Volltextalternativen für multimediale Inhalte, korrekte HTML-Strukturelemente für eine klare Seiten- und Textstruktur, die konkrete Benennung von Ziel und Zweck eines Links, die Auszeichnung von Akronymen und Abkürzungen mit Abbr-Tag sowie fremdsprachlicher Wörter oder Textabschnitte mit den entsprechenden Attributen, die Beschriftung von Formularelementen samt Hinweisen zum Eingabeformat usw.
Und all das sollen Redakteur*innen nicht nur wissen, sondern neben dem oft schon hohen Arbeitspensum auch noch manuell im CMS pflegen? Nicht unbedingt.
In den Bereichen Sprachsuchoptimierung, Bilderkennung, automatische Audiotranskription und Metadatenpflege werden also KI-Technologien, etwa auf Basis von Natural Language Processing und Deep-Learning-Verfahren, die digitale Barrierefreiheit rasant erhöhen.
Schon heute implementieren wir in die Content Management Systeme unserer Kunden spezielle Redaktionsassistenten, die Texte automatisch analysieren. Dabei werden ursprünglich manuelle Tätigkeiten von einer KI übernommen: Diese erkennt Entitäten wie Personen, Orte oder Organisationen, generiert passende Keywords, zeichnet Abkürzungen und Glossarbegriffe aus und verlinkt sie mit internen Wissensquellen. Das Assistenzsystem erstellt also automatisch barrierefreie Inhalte, minimiert den redaktionellen Pflegeaufwand und betreibt nebenbei Suchmaschinen-Optimierung. Redakteur:innen fungieren nunmehr als Trainer der KI und können die zurückgewonnene Zeit der Erstellung qualitativ hochwertiger Inhalte widmen.
Und die Zukunft hält noch weitere smarte Lösungen bereit:
Mit Partnern aus Wissenschaft und Forschung arbeiten wir beispielsweise an intelligenten Algorithmen, die schon bald selbständig Vorschläge für Bildbeschriftungen und Alternativtexte liefern werden.
Wie schon angedeutet, ist auch die Sprachsteuerung von Geräten weiter auf dem Vormarsch. Bis 2020 wird – auch bei Menschen ohne sensorische, motorische oder kognitive Einschränkungen – vermutlich die Hälfte aller Suchanfragen auf Voice basieren. Das bedeutet allerdings auch, dass Webinhalte neu auf Spracheingabe und -ausgabe ausgerichtet werden müssen. Dabei schlagen wir zwei Fliegen mit einer Klappe, denn die Anforderungen für Barrierefreiheit und Sprachsuchoptimierung sind nahezu deckungsgleich: einfache Sprache und Textalternativen für visuelle Inhalte, die von Screenreadern vorgelesen werden können.
In den Bereichen Sprachsuchoptimierung, Bilderkennung, automatische Audiotranskription und Metadatenpflege werden also KI-Technologien, etwa auf Basis von Natural Language Processing und Deep-Learning-Verfahren, die digitale Barrierefreiheit rasant erhöhen. Und nebenbei die Usability und Suchmaschinenfreundlichkeit digitaler Informationsangebote verbessern.
www.bitvtest.de/bitv_test/das_testverfahren_im_detail/pruefschritte.html
www.bitvtest.de/bitv_test/das_testverfahren_im_detail/vertiefend/ueberarbeitung/2019.html
www.bitvtest.de/bitv_test/einfuehrung/kurzvorstellung.html
www.bitvtest.de/bitv_test/das_testverfahren_im_detail/vertiefend/bik_pruefzeichen.html
www.gesetze-im-internet.de/bitv_2_0/BJNR184300011.html
www.bik-fuer-alle.de/barrierefreiheit-umsetzen.html
Nattaphong Kosakul ist ausgebildeter Mediengestalter und arbeitet bei 3pc als Frontend-Entwickler. Bevor er sich der Frontend-Entwicklung und TYPO3 Integration widmete, war er lange als Grafikdesigner tätig. Deshalb stehen Usability-Aspekte bei seiner Arbeit besonders im Fokus. Weiterhin hat er sich bei 3pc auf die Einhaltung der Vorgaben der BITV bzw. WCAG spezialisiert und führt interne Barrierefreiheitstests durch.